Vom sicheren Umgang mit Rindern









Ich bin keine ausgebildete Landwirtin oder Tierpflegerin. Zu den Tieren bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Daher weiß ich um die Stolpersteine beim learning-by-doing. Obwohl ich noch lange kein erfahrener "alter Hase" bin, möchte ich mit diesen Zeilen versuchen, die Sicherheit von Rinderhaltern und das grundlegende Verständnis für das Rind an sich zu fördern.

Das Thema "Sicherheit durch rinderverständliches Kommunizieren und Handeln" ist sehr weitläufig. Hier soll es in erster Linie um die "Erziehung" der Tiere während des täglichen Umgangs gehen, da dieser Aspekt der Rinderhaltung für mich sehr wichtig ist um Gefahrensituationen zu vermeiden.

Unter "Erziehung" verstehe ich, den Rindern beizubringen wie sie sich mir als Pfleger gegenüber benehmen sollten. Dabei besteht die eigentliche Arbeit darin, selbst angemessen zu agieren, was wiederum eine gewisse Kenntnis über das natürliche Rinderverhalten voraussetzt. Ich gebe einige beispielhafte Anregungen, wie man dieses Wissen sehr leicht mit großer Wirkung umsetzen kann. Vielleicht findet sie der eine oder andere (angehende) Nebenerwerbs- oder Hobbyhalter hilfreich. Der folgende Text resultiert aus meinen Erfahrungen mit unserer freilaufenden und weidegängigen Mutterkuhherde, die aus Tieren allen Alters besteht und ist somit nicht uneingeschränkt auf andere Haltungs- und Nutzungsformen anwendbar. Falls ihr eigene Erfahrungen beisteuern wollt, meldet euch einfach!

Im Wesen von Rindern steckt noch viel Wildes und Ursprüngliches und je freier und unabhängiger die Tiere leben, umso mehr kommt das zum Tragen. Fleisch-Rinder, die ganzjährig als Herde auf der Weide gehalten werden, sind eher scheu und schwieriger zu händeln als Milchvieh-Kühe, die nur im Stall leben und täglichen, routinierten Kontakt mit Menschen haben, wie zum Bsp. beim Melken und Füttern. Eine Kuh aus Anbindehaltung ist nicht vergleichbar mit einem Weiderind, das noch nie ein Anbindegeschirr gesehen hat. Aber unabhängig von der Haltungsform darf man bei aller Tierliebe und aller Routine beim direkten Umgang mit Rindern nie vergessen, dass immer ein gewisses Risiko besteht, ernsthaft verletzt zu werden. Es gilt dieses Risiko im Einklang mit den Tierbedürfnissen so gering wie möglich zu halten. Je besser man versteht und respektiert, wie Rinder ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie auf Reize reagieren und wie die soziale Gruppendynamik der Tiere funktioniert und je konsequenter man sein Verhalten den Tieren gegenüber an diese Aspekte anpasst, desto leichter fällt es sie zu händeln und gleichzeitig die eigene Sicherheit zu wahren. Jeder Rinderhalter, der behauptet, seine Rinder wären so lieb und brav, dass gar nichts passieren kann, irrt genauso wie derjenige, der behauptet, dass ein Rind schon macht was er will, wenn er es nur lange und fest genug mit dem Stock bearbeitet.

Der für mich sinnvollste Weg den richtigen Umgang mit Rindern zu lernen, ist die Orientierung am natürlichen (Herden-)verhalten. Die Tiere sind selbst die besten Lehrmeister für uns, falls sie so gehalten werden, dass sie ihre natürlichen Verhaltensweisen auch zeigen können. Durch Beobachten und Verstehen bekommt man wichtiges Rüstzeug an die Hand.

Rinder bauen innerhalb ihrer Herde eine strenge, aber veränderliche Hierarchie auf, die jeden Tag aufs Neue, ja sogar ohne Unterlass geprüft und gefestigt wird. Die Rangfolge innerhalb der Herdenhierarchie wird nicht nur durch den individuellen Charakter eines jeden Tieres beeinflusst, sondern vorallem durch Körpersprache und körperliche Überlegenheit (Masse) festgelegt. Manchmal reichen dafür schon kleine, für Menschen kaum merkbare Bewegungen und Signale und manchmal geht´s richtig zur Sache, mittels Kopfstößen und Schieben, zum Teil unter Einsatz des ganzen Körpergewichts. Je weniger Platz Rinder haben, desto häufiger und heftiger sind ihre Auseinandersetzungen. Es gibt klare Regeln, welches Tier was darf und was nicht, entsprechend seiner Position innerhalb der Herde. Die Leitposition übernimmt die ranghöchste Kuh - die Leitkuh, meist ein großes, kräftiges und erfahrenes Tier. Sie entscheidet z.B. wo und wie lange gegrast oder geruht wird, wägt potentielle Gefahren ab, sorgt für Ordnung in der Gruppe etc. Nach der Leitkuh folgen ranghohe Kühe, die teilweise bestimmte Aufgaben in der Herde übernehmen. Die meisten anderen Tiere sind rangniedrigere Mitläufer. Jungtiere stehen innerhalb der Rangfolge unter den ausgewachsenen Tieren. Kleine Kälber sind noch unbeholfen und brauchen besonderen Schutz. Daher genießen sie eine Zeit lang "Narrenfreiheit" und werden von ihren Müttern und der Herde gegen alle Gefahren verteidigt. Über allen thront der Leitbulle. Er überwacht die Herde und ist immer bereit "seine Weibchen" zu verteidigen.

Bei Bullen sollte man immer besonders aufmerksam sein und mit Bedacht vorgehen. Das Leben der männlichen Tiere dreht sich in erster Linie um die Fortpflanzung. Sie konkurrieren mit anderen Bullen um die Position des Leitbullen, der die weiblichen Tiere decken darf. Sie sind daher potentiell agressiver als weibliche Tiere und suchen eher die körperliche Auseinandersetzung bzw. lassen sich recht schnell auf einen Kampf ein. Es liegt in der Natur eines Bullen, Schwäche auszunutzen, sich durchzusetzen und Chef sein zu wollen. Leider können Bullen auch Menschen als potentielle Konkurrenten wahrnehmen. Manche Bullen sollte man aufgrund ihres Agressionspotentials niemals aus den Augen lassen und Streicheleinheiten sehr sparsam einsetzen, denn einige Tiere nehmen gleich den ganzen Arm, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht.

Für den sicheren Umgang mit Rindern ist es unumgänglich, dafür zu sorgen, immer eine überlegene Position gegenüber den Tieren einzunehmen. Wenn ich von einer "überlegenen Position" spreche, meine ich damit aber nicht den Rang der Leitkuh oder des Leitbullen. Diese Positionen einzunehmen ist für Menschen nicht möglich, denn Rinder akzeptieren Menschen nicht als ihresgleichen. Ein Mensch wird auch als Chef seiner Rinder immer außerhalb der Herdenhierarchie stehen. Rinder, die zwischen Mensch und Rind nicht unterscheiden (können), sind fehlgeprägt. Eine solche Fehlsozialisierung kann meines Wissens passieren, wenn ein Rind keinen oder zu wenig Kontakt zu Artgenossen hat, völlig verhätschelt oder vermenschlicht wird oder anderweitig zu einem rinderuntypischen Leben und Verhalten gezwungen wird. Würden Rinder einen Menschen wirklich als ihresgleichen anerkennen, wäre dieser nicht nur heillos überfordert sondern in Lebensgefahr, da die Tiere viel schwerer und kräftiger sind als Menschen und stark über Körpersprache kommunizieren bzw. über Körperkontakt agieren. Normalerweise akzeptieren Rinder einen Menschen nur als Chef, weil er die Tiere in Gefangenschaft hält, in der sie von ihm abhängig sind (z.B. Futter) und sich seinem Willen beugen müssen (z.B. Elektroweidezaun, Fangeinrichtungen). Gleichzeitig können Rinder den Zweibeiner, der ja kein Rind ist, nicht einschätzen. Sie wissen nicht wie stark oder potentiell gefährlich oder wehrhaft Menschen sind und gehen daher lieber auf Nummer sicher.

Rinder wissen nicht, dass Menschen ihnen - vom Hirnschmalz mal abgesehen - unterlegen sind und sie dürfen das auch nicht herausfinden. Niemals sollte man ein Kräftemessen provozieren oder zulassen. Weder spielerisch noch im Ernstfall. 


Manch ein Rinderhalter riskiert seine Chefposition vielleicht, weil er/sie sich emotional unterbuttern und um den kleinen Finger wickeln lässt. Gerade sehr zutrauliche und verwöhnte Schmusetiere entwickeln mit der Zeit manchmal gefährliche Verhaltensweisen. Rinder, die immer ihren Willen bekommen, sehen sich dem Halter/Pfleger gegenüber schnell auf Augenhöhe. Und wenn ein Jungbulle plötzlich aus einer Laune heraus mit dem "Menschen-Kumpel" ein spielerisches Gerangel anzettelt oder wenn eine 700kg-Kuh einen respektlos beiseite stößt oder drängelt, landet man ruckzuck in der Kiste.

Freilich freut man sich, wenn ein Tier angstfrei und freudig Kontakt sucht. Man fühlt sich geschmeichelt und bestätigt. Leicht lässt man sich dazu hinreißen dem Tier menschliche Eigenschaften zu unterstellen und es mit Liebe zu überschütten. Anhänglichkeit muss aber nicht emotionale Verbundenheit bedeuten. Jedenfalls nicht so, wie wir Menschen sie erleben. Rinder sind keine Menschen und sehen ihre Welt nunmal anders als wir. Wenn man nicht aufpasst, wird man schnell zum Streichelsklaven degradiert, der zur Körperpflege herhalten muss, wann immer es dem Rind beliebt. Das Motto "Wie du mir, so ich dir." kann nicht in der Weise angewendet werden, dass man vom Rind erwartet einen immer lieb und nett zu behandeln, weil man auch zum Rind immer lieb und nett ist. Man kann es nicht zu einem vernünftigen, vorsichtigen und liebenden Partner verhätscheln.

Vielleicht will man den Tieren aber auch einfach so viele Freiheiten wie möglich geben und ihnen ihren Willen lassen im Sinne einer möglichst "artgerechten Haltung", indem man keine Grenzen oder Regeln aufstellt und sich nicht einmischt, sondern den Tieren alle Entscheidungen überlässt. Aber die arteigene Gruppendynamik von Rindern funktioniert nur durch Regeln und Grenzen, die von den Tieren kompromisslos durchgesetzt werden und wir Menschen dürfen diese Regeln und Grenzen nicht missachten. Sonst gefährdet Laissez-faire die eigene Sicherheit.

Um Chef seiner Rinder zu werden, kann man die arteigenen Verhaltensweisen der Tiere und die Tatsache, dass sie als Gruppe in einem Hierarchiegefüge leben, geschickt ausnutzen. Dazu folgen gleich einige Beispiele. Hat man die Chefposition erreicht, kann man sich aber nicht darauf ausruhen. Eine "ranghohe" Position muss ständig und konsequent auch verteidigt werden.

Beispiel 1: Auch die fürsorglichsten Zuchttiere zeigen dem Nachwuchs ab einem bestimmten Alter sehr deutlich wo´s lang geht. Ältere Tiere schieben und stoßen die Jungspunte sogar, als Ermahnung sich ordentlich und ihrer Position gemäß zu benehmen. Hinter solch einem "Ermahnungs-Stoß" steckt manchmal richtig Kraft. Es ist daher sehr von Vorteil, Kälber und Jungtiere nicht zu sehr zu verwöhnen, sondern sie auch frühzeitig und regelmäßig in die Schranken zu weisen oder sie wenigtens mal zu ignorieren, wenn sie Kontakt suchen. Das gilt besonders für zahme "Flaschenkinder". Denn aus einem Kalb wird sehr schnell ein schweres und starkes Tier, dem man nicht mehr so einfach entgegentreten kann. Und regelmäßiges "sich abwenden", "von einem weg Treiben", Wegstoßen oder zur Not ein Hieb durch den Pfleger, wenn ein Tier aufdringlich wird, sind rinderkonforme und wichtige Erziehungsmaßnahmen, die den Tieren zeigen (oder vortäuschen), dass man ihnen überlegen ist. Dabei geht es nicht darum, durch Schmerzen zu erziehen, sondern in der richtigen Situation ein notwendiges, angemessenes und für Rinder verständliches Zeichen zu setzen, damit die Tiere Respekt haben und im besten Fall gar nicht auf die Idee kommen, sich ernsthaft behaupten zu wollen.

Ein solches Verhalten ist nicht nur gegenüber Jungtieren, sondern manchmal auch bei erwachsenen Tieren sinnvoll, egal wie lange sie schon am Betrieb sind. Das Verhältnis zum Halter/Pfleger ist nicht in Stein gemeißelt und kann sich verändern. Auch eine liebe und erfahrene Kuh kann frech werden, wenn man in ihren Augen schwach erscheint. Hier wirkt schon das Ignorieren bei Annäherungsversuchen gut.

Beispiel 2: Ein ranghohes Tier kann auf ein rangniederes Tier zugehen und ihm Körperpflege zukommen lassen oder sich an diesem vorbeidrängen, es beiseite stoßen oder es dazu bringen in eine gewünschte Richtung zu laufen. Umgekehrt darf sich ein rangniederes Tier nur mit Erlaubnis nähern oder es wird sofort gemaßregelt. Außerdem hat es keine Entscheidungsgewalt darüber, wohin die Gruppe läuft etc. Ein ranghohes Tier verlangt, fordert und setzt sich durch. Ein rangniederes Tier verhält sich dagegen fragend, bittend und abwartend. Ergo sollte der Pfleger niemals betteln, sich anbiedern oder nachgeben. Wenn er z.B das Tier streicheln will, sollte er selbst auf das Tier zugehen, nicht umgekehrt. Will man, dass die Tiere etwas bestimmtes tun, sollte man sich auch durchsetzen.

Wenn meine Rinder von sich aus zu mir kommen, streichle ich sie natürlich auch. Aber nicht jedes Mal und auch nur wenn sie lieb und vorsichtig drum bitten oder wenigstens neutral sind. Die Pappnase, die zu selbstverständlich, selbstbewusst oder gar stürmisch kommt, wird eben ihrer Wege geschickt und geht leer aus. Auch Vordrängeln ist nicht erlaubt, damit die eigene Bewegungsfreiheit gewahrt bleibt. Anfangs, als ich noch unerfahren mit Rindern war, habe ich die Tiere sehr verwöhnt und ausgiebig gestreichelt und gekratzt. Inzwischen habe ich das eingeschränkt, auch wenn´s schwer fällt, weil manche Tiere zu fordernd und frech wurden. Beim allgemeinen Streicheln und Kratzen sollte man vorsichtig sein, wenn das Tier sich an einen anlehnt oder seinen Kopf z.B. auf der Schulter ablegen will, denn situationsbedingt kann man dadurch falsche Signale senden. Im Stall kann man durch Anlehnen schnell mal eingequätscht oder gegen eine Wand gedrückt werden und ein junger Bulle oder Ochse könnte versuchen aufzusteigen... Den Deckbullen werde ich nur noch streicheln, wenn ich auf ihn zugegangen bin, nicht umgekehrt. Kommen, schnüffeln und Servus sagen darf er, belohnt wird er aber dafür nicht, es sei denn ich habe ihn zuvor gerufen oder durch meine Körpersprache signalisiert, dass ich den Kontakt wünsche. Wenn ich also gerade den Weidezaun repariere oder eine Tränke im Stall säubere, hat er sich mir nicht zu nähern.

Ein Rind, egal welchen Geschlechts oder Alters, sollte im routinierten Alltag vor dem Pfleger immer weichen, wenn er dies will. Ansonsten stimmt etwas nicht mit der eigenen Chefposition. Natürlich gibt es Ausnahmen von dieser Regel, die etwas Feingefühl erfordern, z.B. wenn das Tier Angst hat, verletzt ist oder ein anderes ranghöheres Tier den Weg versperrt. Will man ein Tier von A nach B manövrieren und das Tier geht nicht freiwillig, sollte man zu große Exemplare lieber treiben, nicht schieben. Oft reicht schon ein bekanntes Kommando, laut und selbstsicher ausgesprochen, ein ordentlicher Klapps auf den Hintern oder zur Not ein Stecken. Der "böse" Strick, mit dem man schon mal angebunden war, kann auch Wunder bewirken... Zugegeben, ein Rind sollte eigentlich keine Angst vor dem Anbindegeschirr haben, also doch lieber der Stecken. Hauptsache das Tier weiß, dass man es ernst meint und nicht locker lassen wird. Auch wenn es vielleicht nur 2 Meter sind, die das Tier laufen soll. Nach einer Weile wird es sich schon bewegen. Im Idealfall kann man ein Tier allein durch die eigene Körpersprache dirigieren, ohne auch nur einen Ton zu sagen und ohne es zu berühren. Bei zutraulichen Tieren finde ich das aber schwierig, da sie in freudiger Erwartung auf Streicheleinheiten eher stehen bleiben oder auf einen zukommen. Kommt man um´s Schieben oder Ziehen nicht drumrum, sollte man sicherstellen, dass es auch zum Erfolg führt, z.B. durch eine helfende Person. Bei ungewohnten Situationen, die das Tier nicht einschätzen kann oder die ihm Angst machen, stößt man schnell an seine Grenzen, z.B. beim Verladen auf einen Hänger oder beim Führen in den Behandlungsstand. Da helfen Geduld und Ruhe, evtl. Locken mit Futter. Nur aufgeben sollte man nicht. Das macht den nächsten Versuch eher noch schwerer.

Beim Bullen geht die Konfrontationsvermeidung vor, insbesondere wenn Kühe seiner Herde rindern (empfängnisbereit sind). An solchen Tagen würde ich mir das Durchsetzen der Regel "Du musst weichen, weil ich das will." verkneifen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Den Bullen würde ich dann nicht von der rindernden Kuh wegtreiben z.B. um sie zu streicheln oder sie aus der Herde herauszunehmen, denn das wird dem Bullen nicht gefallen und man muss das Schicksal ja nicht herausfordern. Besteht die Notwendigkeit an die rindernde Kuh heran zu müssen, sollte auch ein gut erzogener Bulle lieber angebunden oder abgetrennt werden. Auf der Weide sollte dazu wenigstens eine zweite Person anwesend sein.

Beispiel 3: Vorallem junge Bullen testen spielerisch ihre Kräfte aneinander. Typisch ist das Drücken Stirn gegen Stirn. Druck auf die Stirn oder auch nur das Berühren dieser Region kann dieses Verhalten auslösen und fördern. Also sollte man Bullen niemals an der Stirn streicheln oder drücken oder mit ihren Hörnen spielen oder zulassen, dass sie einen mit dem Kopf anstoßen oder gar schieben. Auch nicht, wenn sie erst süße Kälber sind und es noch putzig wirkt. So ein Verhalten Menschen gegenüber muss unbedingt schon im Ansatz unterbunden werden. Ein Mensch kann ein Kalb noch wegstoßen. Bei Jährigen sieht´s schon anders aus. Und wenn ein Bulle erstmal gemerkt hat, dass der Mensch unterlegen ist, hat man verloren. Auch bei weiblichen Tieren sollte man Kopfstöße nicht zulassen. Diese Stöße sind Aufforderungen zum Streicheln, Spielen, Rangeln, Weitergehen, aus dem Weg gehen, etc.. Eine solche Aufforderung darf nicht zum Erfolg führen, sondern gehört getadelt (wegschicken).

Beispiel 4: Kälber und Jungtiere üben spielerisch auch andere Verhaltensweisen, die für die spätere Fortpflanzung wichtig sind. Z.B. besteigen männliche wie weibliche Jungtiere sich gegenseitig oder erwachsene Tiere. Das kann je nach Situation auch einfach eine Aufforderung zum Spielen sein oder ein Dominanzgebahren darstellen. Während andere Kälber und Jungtiere darauf reagieren, wird das Aufsteigen der Kleinen von den erwachsenen Tieren meist völlig ignoriert (rinderne Kühe zeigen Haltereflex). Dieses Aufsteige-Verhalten zeigen Rinder normalerweise nur gegenüber Artgenossen. Sehr zutrauliche oder fehlgeprägte Tiere könnten es aber auch beim Menschen versuchen. Dem kann das Ablegen des Kopfes vorrausgehen. Wie in Beispiel 3 darf man das auch bei Kälbern keinesfalls zulassen. Die Tiere müssen lernen, dass sie Menschen nicht wie Artgenossen behandeln können und dass manche Dinge einfach tabu sind. Wenn ein Bulle mit einer Tonne Lebendgewicht einen Menschen zu bespringen versuchte, wäre das lebensgefährlich.

Zusammenfassend kann man sagen, wenn man Chef seiner Rinder sein will, muss man sich auch in jeder Beziehung konsequent so verhalten. Ob sich ein Tier dem Pfleger nähern darf, ob und wie lange gestreichelt wird, und ob ein Tier beiseite oder weggehen muss, entscheidet der Pfleger, nicht das Tier! Selbst wenn der Liebling noch so goldig und treu schaut und es einem schon in den Fingern juckt, Streicheleinheiten zu verteilen, sollte man Zuwendungen nur in vernünftigen Dosierungen und in geeigneten Situationen geben. Und das heißt, dass man jedes Tier auch regelmäßig und ganz bewusst ignoriert, nicht berührt, auf Abstand hält oder wegschickt. Die Tatsache, dass man sich gegenüber dem Rind durchsetzt, mindert nicht dessen Zuneigung bzw. Vertrauen, schafft aber den unbedingt notwendigen Respekt!

Man darf Rindern aber auch keine Gewalt antun und sie durch Zufügen körperlicher Schmerzen zu einem bestimmten Verhalten zwingen und dann auch noch Einsicht vom Tier erwarten. Man kann einem Rind keine hörige Untergebenheit einprügeln. Gewalt vergisst ein Rind nicht und das Vertrauen ist verwirkt. Es wird wahrscheinlich nur unsicher und ängstlich und verfällt schon durch die bloße Anwesenheit des Übeltäters in Stress, was genauso Unfälle begünstigen kann wie ein dominant agressives Verhalten eines Rindes. Vielleicht wird sich das gequälte Tier aber auch einfach bei einer günstigen Gelegenheit ordentlich rächen.

In manchen Fällen hat der Mensch keine Chance, sich gegenüber einem Rind zu behaupten. Das betrifft dann meistens verteidigende Mutterkühe mit frischem Kalb oder erwachsene Bullen. Manche Bullen sind so dominant, dass sie es früher oder später einfach wissen wollen und den Kampf suchen, auch unabhängig davon ob sie gut oder schlecht behandelt wurden. Ich kann nur raten, einen Bullen sofort zu merzen, wenn eindeutige Agressionen gegen Menschen von ihm ausgehen, auch wenn es ein noch so schönes und wertvolles Exemplar mit super Stammbaum ist. Breitseite zeigen, mit den Hörnern drohen oder mit dem Fuß scharren sind deutliche Warnzeichen. Wer mit einem solchen Tier arbeitet oder bei diesem erzieherisch tätig werden will, spielt mit dem Feuer. Bei einer Attacke muss meiner Ansicht nach die Rübe runter, denn es wird kein Einzelfall bleiben. Selbst wenn das Tier vorher nicht auffällig war und sich vielleicht nur verteidigen wollte, kann es gefährlich sein den Bullen zu behalten. Denn entweder hat der Bulle die angegriffene Person gestellt, verletzt oder sie konnte entkommen. So oder so ging er ohne große Anstrengung als Sieger hervor, was ihn darin bestärkt beim nächsten Mal wieder die Konfrontation zu suchen. Man sollte auch stets bedenken, dass aggressive Zuchttiere mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Eigenschaft an ihre Nachkommen weitervererben.

Manche Anzeichen für potentiell gefährliches Verhalten sind subtil. Unser Deckbulle "Schorschi" erwies sich z.B. als recht stressanfällig und zeigte nach einiger Zeit übertrieben starkes Überwachen, Kontrollieren und Zusammentreiben der Herde. Außerdem hat er mehrmals die Leitkuh attackiert. Bei so einem Tier ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass er bei einer vermeindlichen Gefahr für seine Kühe auch vor dem Angriff auf einen Menschen nicht zurückschreckt. Und so musste "Schorschi" unseren Betrieb schon nach kurzer Nutzungsdauer in Richtung Schlachter wieder verlassen.

Obwohl es ein paar Jahre dauert, bis sich Charakter und Selbstbewusstsein eines Bullen entwickeln und festigen, kann Agressivität unter Umständen schon frühzeitig erkannt werden. Wenn ein Bulle schon als Jungtier sehr selbstbewusst und frech ist, wenn er auch Fremden gegenüber überhaupt keine Angst oder Vorsicht zeigt, öfter zum Spielen und Rangeln auffordert, sich schlecht treiben und lenken lässt oder immer wieder auf einen zukommt, obwohl man ihn wiederholt weggeschickt hat, ist es nicht ratsam dieses Exemplar als Deckbullen zu kaufen oder zu behalten. Aber auch sehr ängstliche Jungbullen taugen nicht als Deckbullen, da sie oft nur wenig Vertrauen zu Menschen haben, unsicher und damit unberechenbar sind und sich aus Angst heraus für den Angriff entscheiden könnten.

Mit der Beachtung von rindereigenen Hierarchie-Gesetzen alleine ist es also nicht getan. Der individuelle Charakter eines Tieres spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Manche Tiere sind extrem gelassen und haben eine hohe Reizschwelle. Andere werden leicht nervös oder sind von Natur aus argwöhnisch. Manche akzeptieren Menschen leichter und verzeihen Fehler besser als andere. Auch reagieren Tiere situationsbedingt recht unterschiedlich (z.B. Schutzinstinkt beim Kalb, Fixieren, Führen) oder verändern ihr Verhalten mit dem Alter oder dem Herdengefüge. Sobald ein Rind von seiner Gruppe getrennt wird, reagiert es dazu noch verunsichert und kann plötzlich viel schwieriger zu händeln sein als innerhalb der Gruppe. Insbesondere reagieren Mutterkühe sehr empfindlich, sollte man sie von ihrem Kalb trennen. Der Schutzinstinkt einer Mutterkuh gegenüber ihrem Kalb darf nie unterschätzt werden, denn hier stößt auch die beste Mensch-Tier-Bindung an ihre Grenzen. Auch Kälber und Jungtiere, v.a. junge Färsen, reagieren besonders schnell panisch, wenn sie von Mama und Herde getrennt werden. Die Tiere gut zu kennen, macht es leichter Situationen besser einzuschätzen. Für Überraschungen sollte man aber immer gewappnet sein.


Auch beim Umgang mit Rindern trifft der Ausspruch zu: "Wissen ist Macht!" Es ist sehr vorteilhaft sich möglichst viel Wissen über Anatomie, Physiologie und Sozialverhalten von Rindern anzueignen. Nur so kann man die Tiere wirklich verstehen, richtig auf ihr Verhalten reagieren, ihnen korrekte Signale senden und dabei mögliche Gefahren vermeiden oder mindern. Grundlegend ist das Wissen darüber, wie die Tiere ihre Umwelt wahrnehmen und auf welche Weise sie auf äußere und innere Reize reagieren. Z.B. sieht ein Rind nach schräg hinten ausgezeichenet, wenn der Kopf nach vorne schaut. Zentral vorne in Kopfnähe sieht es dagegen schlecht. Es ist also so gut wie unmöglich sich von hinten an ein Rind anzuschleichen. Ein harmloser Gegenstand direkt vor seinem Gesicht kann ihm aber Angst machen. Auch für uns Menschen ganz simple Dinge können für Rinder schwierig sein, z.B. von einem hellen in einen dunklen Bereich zu laufen und umgekehrt oder das Überwechseln auf einen andersartigen oder unbekannten Untergrund.

Die arttypische Körpersprache lesen zu können, braucht Zeit und Erfahrung. Umgekehrt auch korrekte Körpersignale auszusenden, kann eine echte Herausforderung sein, denn wir vollführen ständig unterbewusste Bewegungen, die nur begrenzt und schwer steuerbar sind, vom Tier aber bemerkt und interpretiert werden. Wer Angst hat, kann z.B. nur bedingt stark und selbstbewusst auftreten. Man sollte immer seine eigenen Grenzen kennen und in potentiell gefährlichen Situationen nicht alleine am Tier arbeiten (z.B. Ohrmarkeneinziehen, Verladen). Auch ist nicht jeder Mensch dazu geschaffen, Rinder zu händeln. Man sollte Selbstsicherheit, Ruhe und Kraft ausstrahlen, denn das erweckt beim Tier Vertrauen und Sicherheit. Aufregung, Nervosität, Zögern, Hektik und schrille Stimmen verunsichern das Tier. Nicht ohne Grund verunfallen Frauen und alte Menschen durchschnittlich häufiger durch Rinder als Männer. Gerade Frauen tendieren eher dazu, die Tiere sehr sanft zu behandeln. Sie versuchen so zu agieren, dass auch unerfahrene und ängstliche Tiere keinerlei Furcht haben. Diese Sanftmütigkeit ist nichts Schlechtes, sondern meiner Meinung nach einer guten Mensch-Tier-Bindung förderlich. Sie darf aber nicht Hand in Hand gehen mit Unsicherheit und der Angst, die Tiere vielleicht unnötig zu stressen. Dafür haben Rinder feine Antennen und Unsicherheit und Angst können sich auf die Tiere übertragen. Also immer schön ruhig und selbstbewusst sein! Wenn ein Tier doch mal die Flucht ergreift, ist das keine Niederlage. Und selbst wenn man das Tier in unangenehme Situationen bringt, kann es mit der Zeit lernen, dass alles halb so schlimm ist und man ihm nichts Böses will.

Wenn die eigenen Rinder nicht so reagieren, wie man möchte, sollte man die Ursache nicht in mangelnder Intelligenz oder Sturheit der Tiere suchen. Selbstreflexion ist angebrachter. Eigene, eingefahrene Überzeugungen und Denkweisen müssen vielleicht aufgebrochen, Fehler erkannt und eingestanden werden. Offenheit für Neues und die Bereitschaft dazuzulernen hat wohl noch nie geschadet.

Mein Motto beim Umgang mit Rindern: liebevolle Strenge mit der notwendigen Portion Vorsicht und Umsicht, sowie dem Verständins und dem Respekt für das Tier als fühlendes Wesen mit arteigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Noch eine Anmerkung zur Hobby- oder Eigenbedarfshaltung: Rinder sind Herdentiere. Sie sollten niemals alleine, sondern immer zusammen mit anderen Rindern, also mindestens zu zweit gehalten werden. Um ein gesundes Sozialverhalten zu entwickeln, brauchen Rinder den Kontakt zu Artgenossen. Dabei muss es sich nicht um die gleiche Rinderrasse handeln. Auch der engste Kontakt zu anderen Tierarten oder Menschen kann nicht ersetzen, was ein Artgenosse bzw. eine Herde für ein Rind bedeutet. Einzelhaltung birgt zudem die Gefahr von mitunter schweren und gefährlichen Verhaltensstörungen. Wir geben jedenfalls unter keinen Umständen Tiere in Einzelhaltung ab!